
Veröffentlicht am: 14. Juni 2022
Autor: Prof. Dr. med. Burkhard Schütz
Das Reizdarmsyndrom (engl. Irritable Bowel Syndrome, IBS) ist die wohl häufigste Erkrankung des Magen-Darm-Traktes. Etwa 50 % der Patienten, die wegen gastrointestinaler Beschwerden einen Hausarzt aufsuchen, leiden daran [1]. Typische Anzeichen eines Reizdarmsyndroms sind chronische Bauchschmerzen, die in Verbindung mit Verstopfung, Durchfall und Blähungen auftreten können [2]. Es wird geschätzt, dass weltweit etwa 10 – 15% der Bevölkerung an einem Reizdarmsyndrom leiden, wobei Frauen häufiger betroffen sind [3].
Darmbakterien können die Pathogenese eines Reizdarmsyndroms maßgeblich beeinflussen. Oft findet man bei IBS-Patienten Veränderungen im Mikrobiom, die neben einer verminderten Artenvielfalt (Diversität) einerseits durch geringe Keimzahlen an Bifidobakterien und F. prausnitzii gekennzeichnet sind, andererseits aber eine Vermehrung von stoffwechselaktiven Enterobakteriazeen aufweisen [11-14]. Hierdurch können Metabolite entstehen, die zu oberflächlichen Schleimhautentzündungen führen (Low grade Inflammation), aber auch Gefäßwände schädigen können und so Arteriosklerose oder kardiovaskuläre Erkrankungen begünstigen.
Mikrobiomveränderungen und Entzündungen beeinflussen die Bildung und Expression von mikrobiellen Neurotransmittern, wie Serotonin, GABA oder Histamin. Auch die Verfügbarkeit von Neurotransmitter-Vorstufen (z.B. Tryptophan) wird durch die veränderte Darmflora beeinträchtigt. All das hat Folgen. Ein Mangel an Neurotransmittern kann das Schmerzempfinden erhöhen (Serotonin, GABA) oder durch unzureichende Aktivierung von 5-HT4-Rezetoren eine Obstipation begünstigen (Serotonin). Anders ist es bei einer gesteigerten Serotoninproduktion. Durch Anregung der Peristaltik kommt es oft zu einer Diarrhö [15,16]. Auch eine vermehrte Histamin-Bildung durch Enterobakteriazeen kann Ursache für typische Reizdarmbeschwerden sein. So lassen sich Bauchschmerzen oder rezidivierende Durchfälle oft auf eine Aktivierung von Histamin-1-Rezeptoren zurückführen [17-19].
Darmbakterien beeinflussen also die Entstehung und die Symptomatik eines Reizdarmsyndroms erheblich. Deshalb sollte eine diagnostische Abklärung bei Reizdarm in jedem Falle auch eine Mikrobiom- und Neurotransmitteranalyse beinhalten und deshalb setzen unsere Therapieansätze unter anderem auch dort an.
Prä- und probiotische Therapien bei Reizdarmsyndrom
Seit fast 30 Jahren beschäftige ich mich mit Stuhldiagnostik und darmassoziierten Therapien. Mit der Biovis haben wir immer wieder Studien begleitet, die das Ziel hatten, die Wirksamkeit von Prä- und Probiotika bei Reizdarmsyndrom zu untersuchen. Mittlerweile gibt es gute Probiotika, die imstande sind, das Milieu im Darm positiv zu beeinflussen, das Wachstum von Candida oder pathogenen Erregern zu hemmen oder einem Leaky Gut entgegenzuwirken. Durch Auswahl geeigneter Probiotika kann auch die Mucin- oder Butyratbildung gefördert und Entzündungen entgegengewirkt werden. Die Vielfalt an angebotenen Probiotika ist groß. Ihre Eigenschaften unterscheiden sich zum Teil erheblich. Es macht daher Sinn, sich näher mit Probiotika auseinanderzusetzen, um das passende Produkt für den jeweiligen Patienten zu finden.
Die meisten angebotenen Probiotika sind Allrounder, mit möglichst breiten Indikationsstellungen. Einige wurden für bestimmte Altersklassen konzipiert, etwa für Säuglinge, Kinder oder für Senioren. Andere Probiotika werden gezielt gegeben, um eine Antibiotika assoziierte Diarrhö zu verhindern oder vor einer Reisediarrhö zu schützen. Dürfen Indikationen angegeben werden, dann hilft das bei der Auswahl eines geeigneten Probiotikums. Oft sind aber, trotz teilweise vorhandener Studien, Produktaussagen nicht zulässig. Arzt oder Therapeut sind in ihrer Entscheidung alleine gelassen und verordnen oft die falschen Produkte. Es werden Allrounder eingesetzt, die zwar vieles können, aber vieles nicht wirklich gut!
Wirkoptimierte Probiotika durch gezielte Kombination ausgewählter Bakterienstämme
Studien zeigen immer mehr, dass Prä- und Probiotika in optimaler Kombination gute therapeutische Effekte erzielen. Gelingt es, geeignete Stämme zu kombinieren, lassen sich auch Reizdarmbeschwerden damit effektiv beeinflussen. Daten hierzu erbrachte auch eine Studie, die von 2019-2021 an insgesamt 166 Patienten mit Reizdarmsyndrom durchgeführt wurde. Im Stuhl gemessen wurden Histamin, Tryptophan und die Neurotransmitter Serotonin und GABA. 81% der Patienten zeigten Auffälligkeiten in mindestens einem der 4 Parameter. 31% zeigten ein erhöhtes Histamin, das über eine Aktivierung von H1-Rezeptoren zu Durchfällen oder Tenesmen führen kann. Eine Histaminintoleranz (HIT) scheint also eine erhebliche Rolle bei Reizdarmbeschwerden zu spielen. Man weiß, dass Probiotika die Histaminwirkung blockieren können, indem sie die Expression des Histamin-Decarboxylase-Gens (HDC) hemmen und die H1-Rezeptor-Gen Expression reduzieren. Es wird damit weniger Histamin gebildet, das auf eine geringe Zahl an H1-Rezeptoren trifft. Ein Effekt, den die Patienten spüren, oft innerhalb weniger Tage nach Beginn der Probiotika-Therapie. Es gibt nur wenige Probiotika, die gezielt für Indikationen bei IBS entwickelt wurden. Für Patienten mit einer Histaminproblematik ist das z.B. Arktis Sensitive®, Histamed® oder BiGaia®.

Abbildung: Veränderungen von Histamin, Tryptophan, Serotonin und GABA im Stuhl von Reizdarmpatienten. 31% der Patienten zeigen erhöhte Histaminwerte. Biovis 2019
Der Effekt von Arktis Sensitive® und BiGaia® auf die Histaminfreisetzung lässt sich auch in invitro-Experimenten zeigen. Getestet werden darin Probiotika in Anwesenheit von Patientenstuhl und individuellen Zusatzstoffen, die modifiziert werden können und die Art der Ernährung widerspiegeln. Während im Markt sehr erfolgreich eingesetzte Probiotika zwar selbst keine HDC-Gen-tragenden Stämme enthalten, scheinen sie die Patientenflora doch dazu zu bringen, Histamin zu bilden. Die Histaminspiegel steigen und zwar z.T. deutlich. Arktis Sensitive® und BiGaia® hingegen führen zu einer erheblichen Abnahme der Spiegel. Es kommt zu einer Histaminblockade!

Abbildung 2: Einfluss von Probiotika auf den Histamin-Spiegel im Stuhl.
Das Bespiel zeigt, wie effizient Probiotika wirken können. Patienten beschreiben einen klinischen Effekt bei HIT bereits nach wenigen Tagen. Für ein Probiotikum außergewöhnlich!
Wie andere Untersuchungen zeigen, lässt sich auf die oben beschriebene Weise nicht nur der Histamin-Einfluss reduzieren, es gelingt auch durch Probiotika die GABA- und Serotonin-Versorgung zu verbessern, mit positivem Einfluss auf Darmpassage und Schmerzsymptomatik. Auch hiervon profitieren Reizdarmpatienten z.T. erheblich.

Abbildung 2: Einfluss von Probiotika auf den GABA-Spiegel im Stuhl. Ein wichtiger Faktor zur Regulierung von Peristaltik und visceralem Schmerzempfinden.
Reizdarmdiagnostik als Grundlage einer effektiven Therapie
Untersucht man Stühle von Reizdarmpatienten auf Histamin, Tryptophan und Neurotransmitter, ermöglicht das bei vorhandenen Auffälligkeiten gezielte Therapiemaßnahmen. Bei einer Histaminintoleranz kann eine histaminarme Ernährung ebenso sinnvoll sein, wie die Gabe von DAO oder Mastzellstabilisatoren. Bei fehlenden Neurotransmittern oder Vorstufen können diese substituiert werden (5-HTP, GABA, Tryptophan). Wie oben gezeigt, stellen aber auch zielgerichtet eingesetzte Probiotika effektive Therapieoptionen dar, die dazu beitragen, Histamin zu blockieren oder Neurotransmitterdefizite auszugleichen. Es müssen nur die richtigen Probiotika sein!
Ausblick: Personalisiserte Probiotika – eine Option für die Zukunft?
Die beschriebenen Beispiele machen klar, welche Möglichkeiten klug zusammengesetzte Probiotika bieten, wenn sie nur Stämme beinhalten, die gewünschte Effekte zeigen und auf überflüssige oder kontraproduktive Stämme verzichten. Es geht nicht, wie bei den üblichen Allround-Präparaten darum, möglichst viele Fragestellungen mit abzudecken, sondern bei klar definierten Beschwerdebildern einen maximal möglichen Effekt zu erzielen.
Präbiotika und probiotische Bakterienstämme nach den Bedürfnissen des Patienten individuell zu kombinieren, quasi als Individualrezeptur, das wäre neu. Die Auswahl der Komponenten sollte auf dem Beschwerdebild, Befunden von Mikrobiom und ergänzenden Parametern sowie Angaben von Alter und Körpergewicht beruhen. Aufgrund der vorhandenen Daten erfolgt ein Abgleich mit vorhandenen Studien. Ermittelt wird so eine Mischung aus Präbiotika und probiotischen Stämmen in einer optimalen Dosierung, die für die individuelle Fragestellung eines Patienten am besten geeignet sind. Ist so etwas wirklich möglich?
Ja, es ist möglich! Ich stelle Ihnen Ergebnisse dieses neuen, personalisierten Therapieansatzes vor. Kommen Sie zum Seminar der SSAAMP am 24. November in Zürich. Sie werden es nicht bereuen!
Literatur beim Verfasser.