Warum finanzielle Sicherheit ein unterschätzter Gesundheitsfaktor ist.

Veröffentlicht: 15. August 2025
Autorin: Nadine Esposito
In der Präventions- und Longevitymedizin richtet sich der Blick bewusst nach vorne: Es geht nicht nur darum, Symptome zu behandeln, sondern ihre Ursachen zu erkennen – und das „Warum“ hinter Beschwerden zu verstehen. Dabei werden Lebensstilfaktoren analysiert, erhöhte Cortisolwerte als Ausdruck von Stress identifiziert und Empfehlungen zu Schlaf, Ernährung und Bewegung gegeben.
Doch ein zentraler Stressor bleibt dabei oft unberücksichtigt – obwohl er viele Menschen täglich begleitet: finanzielle Unsicherheit.
In Anamnesegesprächen wird häufig gefragt: „Sind Sie berufstätig?“ oder „Sind Sie bereits in Rente?“. Diese Fragen suggerieren finanzielle Stabilität, liefern aber selten ein realistisches Bild. Viele Patient:innen erscheinen nach aussen hin funktional – sie haben Arbeit oder Rente, eine Krankenversicherung und wirken stabil –, doch leben dennoch unter dauerhaftem finanziellen Druck. Dieser bleibt im klinischen Alltag oft unsichtbar, beeinflusst jedoch wesentlich die physische und psychische Gesundheit, die Umsetzung von Therapiemassnahmen und letztlich auch den Alterungsprozess.
Der blinde Fleck: Wenn Geldsorgen zu Gesundheitsrisiken werden
Chronischer Stress ohne Laborwert
Die wissenschaftlich belegten Zusammenhänge zwischen Stress, Lebensstyl, Entzündung und beschleunigtem Altern sind bekannt. Doch die Ursache für diesen Stress bleibt oft unerkannt – und liegt häufig in ökonomischer Unsicherheit. Dauerhafte finanzielle Belastung führt zu einem konstanten inneren Alarmzustand mit Cortisolausschüttung, Schlafstörungen, Veränderungen des Immunsystems und oxidativem Stress, der die Zellalterung beschleunigt.
Das Besondere daran: Viele Betroffene sprechen diesen Stress nicht an – aus Scham, aus Angst vor Stigmatisierung oder weil Armut in einem wohlhabenden Land wie der Schweiz besonders schwer wiegt. Es ist einfacher, arm zu sein in einem armen Land. In der Schweiz hingegen ist Armut oft unsichtbar – aber tiefgreifend belastend. Die Isolation droht.
Fehlende Mittel, nicht fehlende Motivation
Wenn therapeutische Empfehlungen nicht umgesetzt werden, wird dies häufig vorschnell als mangelnde Motivation interpretiert. Tatsächlich können es aber auch ökonomische Hürden sein, die eine Umsetzung verhindern:
- Hochwertige, entzündungshemmende oder eiweißreiche Ernährung ist teuer
- Zahnärztliche Leistungen sind nicht in der Grundversicherung abgedeckt
- Präventive Checkups oder Folgeuntersuchungen werden nicht wahrgenommen um Kosten zu reduzieren
- Sportprogramme, Mentalcoaching oder Physiotherapie erscheinen als Luxus
Soziale Isolation als Krankheitsverstärker
Hinzu kommt die psychische Belastung: Wer sich keine Freizeitgestaltung, soziale Aktivitäten oder kleine Auszeiten leisten kann, wird leichter depressiv, zieht sich zurück oder fühlt sich im Alter einsam. Altersarmut wird für viele zur realen Bedrohung – gerade für Menschen, die schon während des Erwerbslebens mit geringen Löhnen kämpfen mussten und kaum Rücklagen bilden konnten. Wer keine finanziellen Reserven hat, dem fehlt oft die Kraft, sich zu erholen oder Unterstützung zu organisieren.
In solchen Fällen reichen Empfehlungen zu Bewegung, gesunder Nahrung oder Nahrungsergänzung nicht aus. Das Problem ist strukturell – und verlangt nach einem systemischen Blick auf Gesundheit.
Wenn finanzielle Sicherheit zum Gesundheitsfaktor wird
Handlungsspielräume ermöglichen Gesundheit
Finanzielle Sicherheit bedeutet nicht Reichtum, sondern Freiheit: die Freiheit, Gesundheit mitzugestalten. Wer sich keine Sorgen um die nächste Rechnung machen muss, kann:
- Ärztliche Empfehlungen konsequenter umsetzen
- Diagnostik frühzeitig in Anspruch nehmen
- Hochwertige Lebensmittel wählen
- In Prävention, Bewegung, Entspannung und psychische Stabilität investieren
- Aktiv am sozialleben teilnehmen
Kurz: Finanzielle Stabilität verbessert die Umsetzung medizinischer (präventiv) Empfehlungen deutlich – und ermöglicht nachhaltigere Therapieerfolge.
Psychische Entlastung, kognitive Stärke
Wenn finanzielle Sorgen abnehmen, steigen Schlafqualität, emotionale Ausgeglichenheit, Konzentrationsfähigkeit und Stressresistenz. All das sind Grundpfeiler eines gesunden Alterns. Die Fähigkeit, länger gesund und leistungsfähig zu bleiben, erhöht auch die Chancen, länger am Berufsleben teilzuhaben – ein entscheidender Punkt, insbesondere vor dem Hintergrund drohender Altersarmut.
Gesundheit als Investition in die Zukunft
Wer heute gesund bleibt, verursacht morgen weniger Kosten – für sich selbst, für das Gesundheitssystem und für das soziale Netz. Prävention ist eine wirtschaftlich sinnvolle Gesundheitsstrategie. Gerade Menschen mit begrenztem Einkommen profitieren davon, wenn ihnen Zugang zu gesundheitsrelevantem Wissen und kostengünstigen Strategien ermöglicht wird.
Was können Ärzt:innen tun?
Niemand erwartet, dass Mediziner:innen zu Finanzcoaches werden. Doch sie sind zentrale Vertrauenspersonen im Leben vieler Patient:innen – und können helfen, finanzielle Belastungen im Gesundheitssystem sichtbar zu machen.
1. Die richtigen Fragen stellen
Ergänzend zur Berufstätigkeit könnten folgende Fragen Impulse geben:
- „Haben Sie das Gefühl, Ihre Gesundheit gut finanzieren zu können?“
- „Gibt es finanzielle Gründe, warum Sie Termine verschieben?“
- „Ist es für Sie machbar, die empfohlenen Maßnahmen langfristig umzusetzen?“
Diese Fragen öffnen Räume für ehrliche Gespräche – ohne Überforderung.
2. Gesundheit braucht Ressourcen – das darf gesagt werden
Gerade in der Präventions- oder Anti-Aging-Medizin ist vieles nicht kassenfinanziert. Wird dies offen kommuniziert, fällt es Betroffenen leichter, ihre Situation darzulegen – ohne sich schuldig zu fühlen.
3. Vernetzen statt beraten
Ein gut gepflegtes Netzwerk mit spezialisierten Finanzberater:innen (z. B. für Gesundheitsplanung, Altersvorsorge, Erwerbsunfähigkeit) kann ein wertvoller Hinweis sein – schon ein Flyer oder eine Empfehlung genügt oft.
4. Lifespan, Healthspan – und Wealthspan
Neben Lebensspanne (Lifespan) und gesunden Jahren (Healthspan) gehört auch der Begriff „Wealthspan“ in die Diskussion: die Zeit finanzieller Eigenständigkeit im Leben. Nur wenn alle drei übereinstimmen, ist gesundes Altern wirklich möglich.
Fazit: Finanzielle Gesundheit ist Gesundheit
Gesundheit endet nicht beim Blutdruck oder Blutzucker. Auch Handlungsspielräume, finanzielle Sicherheit und soziale Teilhabe gehören dazu. Ärzt:innen, die diese Realität anerkennen und in ihre Gespräche integrieren, leisten einen zentralen Beitrag zur gesellschaftlichen Gesundheitskompetenz – und zur Würde ihrer Patient:innen.
Denn gesund alt zu werden bedeutet nicht nur, länger zu leben –
sondern selbstbestimmt, stabil und mit Lebensqualität zu leben.
Fragen zur Reflexion:
- Welche Rolle spielt finanzielle Sicherheit in Ihrer ärztlichen Praxis?
- Wo erleben Sie im Alltag verdeckte Belastungen durch ökonomische Einschränkungen?
- Wie kann finanzielle Realität stärker in die Therapieplanung einbezogen werden?
Teilen Sie Ihre Beobachtungen – Ihr Blick kann helfen, medizinische Versorgung menschlicher, realistischer und gerechter zu gestalten.
Verantwortlich für den gesamten Inhalt
Nadine Esposito
Founder und CEO
Wellthspan Advisory
nadine.esposito@wellthspanadvisory.com
Head Risk und Investment Controlling; radicant bank
Hinweis
Dieser Bericht wurde von Nadine Esposito nach bestem Wissen und Gewissen verfasst. Er gibt ausschliesslich ihre persönliche Einschätzung und Sichtweise wieder und steht in keinerlei Zusammenhang mit der SSAAMP. Die SSAAMP übernimmt keine Verantwortung für Inhalt, Richtigkeit oder Vollständigkeit der dargelegten Informationen.
